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Detlef Grumbach


Das Eigene und das Fremde

Szenen aus der kolonialen, postkolonialen und multikulturellen Welt

NDR 4, Forum 4, 17. März 1999



Zitator
Die Eroberung der Erde, die meistens darauf hinausläuft, dass man sie denen wegnimmt, die eine andere Hautfarbe oder etwas flachere Nasen als wir haben, ist keine hübsche Sache, wenn wir ein bißchen genauer hinsehen.

Autor:
Das stellt Joseph Conrads Erzähler Marlow in dem Roman "Herz der Finsternis" fest. Er fährt fort:

Zitator
Was das ganze erträglich macht, ist nur die Idee. Eine Idee dahinter: kein sentimentaler Vorwand, sondern eine Idee; und ein selbstloser Glaube an die Idee – etwas, woran man sich halten und vor dem man sich verneigen und dem man auch Opfer bringen kann ....

Autor:
Joseph Conrads Roman erschien vor hundert Jahren. Marlow, sein Alter ego, berichtet von seiner Reise in den Kongo, wo er als Kapitän eines Flußdampfers bis ins Innere Afrikas vorstößt, bis zu dem weit oben am Fluß gelegenen Stützpunkt, wo Kurtz, ein typischer Repräsentant des belgischen Kolonialismus, unglaubliche Mengen Elfenbeins aus dem undurchdringlichen Urwald herauspreßt. Alles, was wir über die Vorposten der Zivilisation im Kongo und die Praktiken jenes Kurtz erfahren, spricht jedoch gegen die Existenz einer solchen "Idee". Die nackte Eroberung kolonialer Gebiete war dennoch verpönt, spätestens seit der spanische Geistliche Bartolomé de Las Casas 1542 seinen "kurzgefaßten Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder" niedergeschrieben hatte und seit die europäischen Mächte auf den Aufbau eines langfristigen und stabilen Kolonialsystems setzten. Seit 1502 weilte Las Casas als Vertreter der Kirche auf der Insel Hispaniola – heute Haiti und die Dominikanische Republik. "Wie Wölfe, Tiger und Löwen, die mehrere Tage der Hunger quälte", seien die Spanier über die karibischen Inseln und Mittelamerika hergefallen. Die Konquistadoren hätten vierzig Jahre nichts anderes getan als die Bewohner des Landes zu "zerfleischen, erwürgen, peinigen, martern, foltern, und sie auf tausenderlei eben so neue als seltsame Qualen ... auf die grausamste Art aus der Welt zu vertilgen". Conrads Held Marlow tritt 300 Jahre später als Vertreter eines Imperiums in Erscheinung, das seine Raubzüge nach wie vor in christlicher Mission ausführt. Er argumentiert aber auch als Vertreter des modernen Europas, das die Leibeigenschaft der Bauern abgeschafft hat und den Proklamationen der Französischen Revolution immerhin schrittweise zur gesellschaftlichen Realität verholfen hat. Als solcher weiß er, dass es nur auf dem Weg brutaler Ausplünderung auf Dauer nicht weitergehen kann, zumal das System auch Opfer zu Hause fordert, die gerechtfertigt sein wollen. Die Idee soll deshalb den Unterschied zwischen bloßer Unterjochung und einem zivilisierten Kolonialsystem kennzeichnen. So wie wir heute in kontroversen Diskussionen Ideen brauchen, die uns im Umgang mit fremden Menschen und Kulturen moralisch legitimieren? Die Idee, die Marlow reklamiert, setzt etwas voraus: operatives Wissen, einen klar definierten Rahmen, innerhalb dessen sie einen Sinn ergibt. Sie schließt etwas anderes aus: unbefangene – oder sollen wir natürliche sagen? – Neugier, das Staunen über die Dinge, von denen wir eben keine Idee haben!

Zwar standen der Profit und die Hoffnung auf einen nie versiegenden Strom von Gewürzen, Zucker, Gummi und Baumwolle, von Opium, Zinn, Gold und Silber im Vordergrund aller kolonialen Bestrebungen, doch das Versprechen von Wohlstand allein hätte dem System nicht die erforderliche Stabilität verliehen. Das ist die These des Orientalisten Edward W. Said, eines 1935 in Jerusalem geborenen Arabers, der heute als Professor in den Vereinigten Staaten lehrt. In seinem Buch "Kultur und Imperialismus" untersucht er die Bedingungen, unter denen "anständige Männer und Frauen", wie er formuliert, die Vorstellung akzeptieren konnten, dass überall in der Welt riesige Gebiete nicht nur okkupiert wurden, sondern dies sogar werden sollten,

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so dass diese Männer und Frauen sich das imperium als verlängerte, nahezu metaphysische Verpflichtung zur Beherrschung unterlegener, minderer oder weniger fortgeschrittener Völker ausmalen konnten.

Autor:
Man hat es immerhin mit Menschen zu tun, wenn auch mit Menschen, die außerhalb der Geschichte der Zivilisation stehen, die gleichsam im Naturzustand zurück geblieben sind. Als solche sind sie weder Freund noch Feind. Man kann ihnen nicht einmal den Krieg erklären. Sie werden zu Eingeborenen, zu Ureinwohnern herabgedrückt, zur "Bestie" oder zum "edlen Wilden" erklärt, die an die Zivilisation heran geführt werden sollen. – Noch stehen sie auf der anderen Seite. – Sie sind Fremde.

Das Eigene existiert nicht ohne das Fremde, so wie das Innen nicht ohne das Außen, die Norm nicht ohne die Abweichung, der Freund nicht ohne den Feind und das Gute nicht ohne das Böse. Beide Seiten hängen voneinander ab, ihre Trennlinie ermöglicht eindeutige Zuordnungen, dient als verläßliche Richtschnur für eigenes Handeln und die Entwicklung eines Selbstverständnisses. Stabilität bringen sie aber nur hervor, wenn sich die Gegensatzpaare innerhalb eines Wertsystems bewegen, wenn die Machtverhältnisse, die das Innen definieren und das Außen ausschließen, die den Freund bestimmen und den Anderen zum Feind machen, nicht in Frage gestellt, sondern immer wieder bestätigt werden. Das Fremde jedoch steht außerhalb dieses Wertesystems und seiner Definitionsmacht. Es demonstriert seine Begrenztheit und verweist auf eine unüberbrückbare Differenz. Es entsteht eine Ambivalenz, ein bedrohlicher Treibsatz für die moderne Ordnung. Diese Ambivalenz entschärfen und überwinden, Neugier und Staunen in überschaubare Bahnen lenken soll das, was Joseph Conrads Marlow die "Idee" nennt. Die Idee soll zusammen mit der Bibel und entwicklungspolitischen Programmen dazu dienen, den Machtbereich eurozentristischer bzw. westlicher Definitionen auszudehnen, das Vormoderne als Objekt eigener Bewertung, Verklärung oder Denunziation, zu integrieren: als Ausstellungsstück im Völkerkundemuseum, auf dem Speiseplan, wo auch immer. Die heute kurios wirkende Geschichte Angelo Solimans erzählt davon: In Äthiopien geboren, wurde der schwarze Mann am 11. September 1731 auf den christlichen Namen Angelo Soliman getauft. Er gelangte als Sklave nach Italien und später ins kaiserliche Wien, wo ihm ein glänzender gesellschaftlicher Aufstieg bevorstand. Er wurde Mitglied einer Freimaurerloge, verkehrte in höchsten Kreisen und heiratete sogar eine weiße, adelige Witwe. Man schmückte sich mit seiner Anwesenheit, so wie sich heute manche Schickeria-Gesellschaft mit "ihren" Exoten schmückt, wie man gern ein besonderes Verhältnis zu "seinem" Italiener oder zu "seinem" Türken herausstellt. Als Soliman 1796 starb, wollte der Kaiser seine Schönheit erhalten wissen. Ein Gipsabdruck wurde genommen. Die Haut wurde ihm abgezogen. Wenig später zierte ein wunderbar aussehender ausgestopfter Schwarzer das königlich-kaiserliche Hof-Naturalienkabinett. Vollendete Integration im Jahre 1796! Der Anglist und Literaturwissenschaftler Robert Weimann stellt in dem von ihm herausgegebenen Band "Ränder der Moderne" fest:

Zitator
Heute, am Ausgang der Moderne, ist es unmöglich, das Andere zu denken, ohne nicht selbst dabei anders zu denken. Zu Beginn der Neuzeit jedoch, als ein blinder Hochmut dem Anderen ein Dasein in seiner Andersartigkeit verwehrte, war dem nicht so. Da war kein Raum für Dialog mit einer fremden Welt, die sich selbst gehört; deren Repräsentation ohne Besitzergreifung war kaum denkbar. Das Erkundete sollte zugleich erobert und nach dem Bild des Eroberers assimiliert werden. Beschreibungen, Benennungen, ja die Topographie auf der Landkarte sollten – allein schon im Akt des Repräsentierens – fadenscheinige Besitztitel erhärten.

Autor:
Besonders die großen englischen und französischen Romane des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts haben, so weist Edward Said in seiner gegen den Strich gebürsteten Lesart der Werke nach, ihre kolonialen und imperialen Gesellschaften nicht nur literarisch begleitet. Sie sind genuiner Bestandteil dieses "Aktes des Repräsentierens", schaffen "Strukturen der Einstellung und der Referenz". Der in ihnen geschärfte und festgehaltene koloniale Blick fokussiert die Bilder und Klischees des Bedrohlichen, des Exotischen, des Archaischen: alles Voraussetzungen, um das Andere handhabbar zu machen, in die Welt der Zivilisation einzufügen. Indem diese Bilder der "Dritten Welt" ihre Wirkung entfalten, verändern sie auch das Selbstverständnis der Völker der Ersten Welt, wächst deren Überlegenheitsgefühl und das Bewußtsein, Maßstab aller Dinge zu sein. Die englische Autorin Jane Austen beispielsweise erzählt in ihrem 1814 erschienenen Roman "Mansfield Park" die Geschichte der aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Fanny Price, die im Alter von zehn Jahren im Herrenhaus ihres Onkels Sir Bertram, eben in Mansfield Park, aufgenommen wird und dort in wohlhabender, aber doppelbödiger Umgebung aufwächst. Schon Fanny, das Kind einer nicht standesgemäßen Liebesheirat, erscheint als unterentwickelt und fremd.

Zitator
(Fanny) kriegt die Landkarte von Europa nicht zusammen – oder (sie) kann die wichtigsten Flüsse von Russland nicht hersagen – oder sie hat noch nie von Kleinasien gehört – oder sie kennt nicht den Unterschied zwischen Aquarell und Pastell.

Autor:
Die Dummheit Fannies äußert sich vor allem darin, dass sie sich nicht sicher und wie zu Hause über den Globus bewegt. Das ist kein Zufall. Das britische Empire spielt eine tragende Rolle für das Leben in Mansfield Park. Wohlstand und Glück basieren auf den "Besitzungen in Übersee". So wie Fanny nachmittags für den Tee der Hausdame sorgt, sorgen die "westindischen Besitzungen" für das nötige Kleingeld. Im Gegensatz zu Fanny haben diese jedoch weder Gesichter noch eine Geschichte. Für die Romanhandlung sind sie nur deshalb wichtig, weil es dort Schwierigkeiten gibt. Sir Bertram sieht sich gezwungen, so wörtlich, "selbst nach Antigua zu reisen, um seine dortigen Angelegenheiten in Ordnung zu bringen". Was dies bedeutet? Nach seiner Rückkehr nimmt Sir Bertram, ganz Patriarch, "mit Fug und Recht" "die Position des Erzählers" ein; doch was er zu berichten hat, erfährt der Leser nicht. Einmal fragt Fanny, die ihm "stundenlang" zuhören könnte, nach dem "Sklavenhandel". "Da breitete sich eine solche Totenstille" aus, dass von einer Antwort nicht die Rede sein kann. Auf den westindischen Besitzungen herrscht jedenfalls wieder Ordnung, und in Mansfield Park geht – durch Fannies Anwesenheit mittlerweile geläutert – das beschauliche Leben weiter. Fanny und die Menschen auf Antigua ermöglichen so den Fortbestand der bürgerlich-imperialen Idylle. Fanny – das ist der Unterschied – ist immerhin eine Engländerin und Verwandte. Sie ließ sich integrieren. Die Realität des Kolonialismus bleibt unheimlich und deshalb ausgeklammert, und beinahe denkt man an Luigi, den netten italienischen Kellner im "Ristorante Roma", und an die namenlosen schwarzen Küchenjungen hinter dem Verschlag, bei der Spülmaschine oder beim Gemüseputzen.

Wo die fremden Welten nicht mehr ausgeblendet bleiben, werden sie als finster, gefährlich und undurchdringlich geschildert, bergen sie – ganz Natur – ungeahnte Gefahren und exotische Reize. Der Fluß, den Marlow in Joseph Conrads "Herz der Finsternis" hinauf fährt, wird als "faszinierend – tödlich – wie eine Schlange" beschrieben, die "schwarzen Kerle", die die Expedition begleiten, haben "Gesichter wie groteske Masken". Mitreisende fragen sich, wie man, so wörtlich, "diesen unwissenden Millionen ihre entsetzlichen Bräuche austreiben" könne, Marlow selbst spricht von "prähistorischen Menschen" und fragt sich ratlos, ob diese ihn wohl verfluchen, anbeten, willkommen heißen oder – ?
Marlow – und damit auch Joseph Conrad – bemerkt das Elend der Schwarzen, die sterben wie die Fliegen. Er erfährt sich aber auch selbst als Teil des Systems, wörtlich, "als Teil der großen Sache dieser hohen und gerechten Vorgänge hier" und findet sich an der Seite des besonders brutalen Kurtz wieder. Es klingt beinahe hilflos, wenn er fragt:

Zitator
Was waren wir, die wir und hierher verirrt hatten? Konnten wir mit diesem stummen Etwas umgehen, oder ging es mit und um?

Autor:
Die Schwarzen passen in kein Schema,

Zitator
.... diese Männer konnte man, auch wenn man die Einbildungskraft noch so sehr strapazierte, nicht Feinde nennen. Sie wurden Kriminelle geheißen, und das Gesetz war, so wie die explodierenden Granaten, vom Meer her über sie hereingebrochen, ein unlösbares Rätsel.

Autor:
Die koloniale Welt ist eine "zweigeteilte Welt", stellt der Algerier Frantz Fanon in seiner Streitschrift "Die Verdammten dieser Erde" aus dem Jahr 1961 fest. Eine Oberschicht aus den Kolonien jedoch wird an den Hochschulen in Europa ausgebildet, fügt sich ein in die Zivilisation, macht sich zu ihrem Statthalter. Andere schlagen zurück, führen bis heute den Kampf um ökonomische, politische und kulturelle Eigenständigkeit. Beide Seiten des kolonialen Systems bilden eine Einheit, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln wahrgenommen wird. Der Riss geht mitten durch die kolonisierten Völker – und er geht durch die Völker der ersten Welt. Die Unterdrückung in den Kolonien öffnet auch den Blick auf die Unterdrückung zu Hause. Die portugiesische "Nelkenrevolution" im April 1974 gibt beredtes Beispiel dafür: Teile des eigenen Militärs stürzen die portugiesische Junta, um den Kolonialkrieg in Angola und Mozambique zu beenden und auch, um zu Hause für demokratische Verhältnisse zu sorgen.

Was aber auch immer der Fremdheit entrissen und in die Zivilisation, der Geschichte integriert werden konnte, es bleibt ein Rest. Dieser Rest bleibt anders. Die Ambivalenz, mit der die Moderne keinen Frieden schließen, die sie nicht akzeptieren konnte, bleibt bestehen – auch nach der Befreiung der Kolonien, nachdem sich in überall in Afrika, Lateinamerika und im asiatischen Raum unabhängige, souveräne Staaten herausgebildet haben. Und mit ihr wirken weiter der Wunsch, sie im "Entweder–oder" aufzuheben, aber auch die merkwürdigen Reize, die von ihr ausgehen. Die Idee des Kolonialismus ist letzten Endes gescheitert. Joseph Conrad zeigt, wie die Reise ins Herz der Finsternis zu einem Grauen wird, wie der Kongo die Eindringlinge am Ende verschlingt. Kurtz geht in der Wildnis elendiglich zugrunde, Marlow entkommt ihr nur knapp. Die Idee muß scheitern, aus ihrer eigenen Logik heraus. Der 1938 in Kenia geborene Ngugi wa Thiong'o spricht deshalb vom "Kampf um die Entkolonisierung der Vorstellungskraft". Ngugi plädiert dafür, die Wirklichkeit nicht mehr künstlich getrennt, als die der Ersten und die der Dritten Welt wahrzunehmen, sondern als eine gemeinsame Wirklichkeit, als eine untrennbare Erfahrung mit zwei Seiten. In seinem Roman "Der Fluss dazwischen", einer späten Antwort auf Joseph Conrad, geht Ngugi bewußt den Weg des selbstbewußten und kämpferischen Dialogs. Waiyaki, der Held des Romans, fühlt sich berufen, die Tradition und die Rituale der Schwarzen zu bewahren, lernt aber auf der Missionsschule alles, was die Zivilisation ihm zu bieten hat, weil es nützlich ist. Er begibt sich nicht zwischen die Kulturen, erlebt keine "innere Zerrissenheit", wie sie heute für Muslime in Deutschland so oft beschworen wird. Er bleibt wo er ist, blickt aber über den Zaun, macht die erstaunliche Erfahrung, dass von dort, wo er hinschaut, zurückgeblickt wird. Dadurch verändert sich auch sein Verhältnis zur Tradition, er tritt den Weißen aber souverän und ebenbürtig entgegen, zwingt ihnen, so seine Perspektive, den gleichen Umgang auf und verteidigt die Rechte der Schwarzen!

Wie mächtig wirkt die Idee des Kolonialismus heute noch in den Köpfen? Welche anderen Ideen treten an ihre Stelle, wenn heute die sogenannten Entwicklungsländer an industrielle Produktionsweisen herangeführt und in die Märkte integriert werden, die unter der Obhut des Internationalen Währungsfonds stehen? Heute sprechen die ehemaligen Kolonien und ihre sogenannten Mutterländer miteinander: als Partner innerhalb eines weltweit organisierten Handels, innerhalb der UNO, im Rahmen regionaler Bündnissysteme oder bilateraler Beziehungen. Eigenständige kulturelle Wurzeln, Leistungen und Religionen werden stärker wahrgenommen und zunehmend respektiert. Dies gilt längst nicht mehr nur im Verhältnis zwischen territorial definierter erster und dritter Welt innerhalb des sogenannten postkolonialen Diskurs, sondern angesichts weltweiter Migrations- und Flüchtlingsströme auch in den Zentren der westlichen, industrialisierten Welt, die sich dem Fremden gegenüber nicht abschotten können: im multikulturellen Diskurs. Entscheidend ist jedoch die Frage, ob im Mit- oder Nebeneinander das ökonomische und kulturelle Machtgefälle weiterhin gefestigt wird oder ob sich ein gleichberechtigter Diskurs etabliert, der dazu beiträgt, die Machtverhältnisse zu überwinden: Wenn der 1946 geborene Schriftsteller und Dramatiker Ludwig Fels vor wenigen Jahren den Stoff des Mohren "Angelo Soliman" aufgreift, zielt er durchaus auf die Gegenwart. In seinem Stück läßt er den Hofmaler auftreten, der den Mohr zu Lebzeiten noch im Auftrag des Kaisers malt.

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Wir umgeben uns gern mit Menschen, die anders sind oder anders scheinen als wir selber: sie zieren gewissermaßen unseren Schatten, den wir werfen, auch über sie. Wir zeigen sie herum wie neu erworbene Kleider oder niedliche Haustiere, genießen das Aufsehen, das sie erregen in Gesellschaft, in einer Gesellschaft, die sich seit je den fremdartigsten Fremdlingen am ehesten zuwandte und sie mit Aufmerksamkeit bedachte, die man höflicherweise nur als ungeschützt umschreiben kann. Man möchte ihren Anblick für alle Zeiten, Ewigkeiten im Gedächtnis aufbewahren: als sei damit der Reichtum der Erinnerung gewährleistet. Man möchte sie ausstellen und ihrer immer habhaft sein; selbst ihr Tod entzieht sich nicht unserer verkommenen Neugier. Ob es sich um einen Klumpfuß, einen Wasserkopf oder schwarze Haut handelt, ist nicht weiter von Belang; die Extremität einer Existenz dient als Blickfang, der genügt. Das Schweigen der Henker kümmert sich nicht um die Sprache der Opfer.

Autor:
Noch scheint der Wunsch dominant, des Fremde habhaft zu werden. Nistet es sich vor der eigenen Haustür ein, bleibt ihm beinahe nur die Möglichkeit der einseitigen Integration, der Assimilation oder auch Akkulturation, wie es heute in den Diskussionen genannt wird. Oder es wird durch einseitige Zuschreibungen zur unerwünschten Person, zum Feind erklärt, der argwöhnisch beobachtet und, wenn's drauf ankommt, lieber ausgewiesen wird. Die polnischen Bergleute, die im letzten Jahrhundert ins Ruhrgebiet kamen – sie waren Weiße und katholischen Glaubens – wurden restlos integriert. Schimanski, Dombrowski und Koslowski sind heute deutsche Namen wie Meier oder Müller. Bei Italienern, Portugiesen oder Spaniern schwindet die Differenz – auch sie gehören der als Weltkirche konstituierten katholischen Kirche an. Werden sich in absehbarer Zeit aber auch Schwarze oder Moslems einer Gesellschaft zugehörig fühlen können, die ihre Selbstgewißheit nicht abstreift? Was kann geschehen, damit auch sie hier frei leben können? Blicken wir noch einmal zurück: Ein Autor wie Joseph Conrad spürte sehr deutlich, dass die Einverleibung des Fremden nicht aufgeht, dass "die Überlegenheitsidee" des Kolonialismus scheitern mußte. Konnte er das besser als andere, weil er selbst nicht eins war mit der britischen Kolonialgesellschaft? Conrad wurde als Józef Teodor Konrad Korzeniowski in der Ukraine geboren, wuchs mit Polnisch als Muttersprache auf ist, wurde mit den Eltern nach Nordrußland verbannt, floh nach Krakau und begann seine Laufbahn als Seemann schließlich auf einem französischen Schiff, bevor ein weltberühmter englischer Erzähler wurde. Oder der 1879 geborene Edward Morgan Forster, der Autor des sicher bedeutendsten Romans über das britische Kolonialsystem in Indien. Als 1869 der Suezkanal eingeweiht wurde, hatte Walt Whitman seine optimistische Hymne auf eine durch den technischen Fortschritt geeinte Welt verfaßt: "A Passage to India". Gut 50 Jahre später, 1924, erschien Forsters skeptischer Abgesang auf diese Vision – unter demselben Titel, deutsch "Auf der Suche nach Indien". Mit Witz und Ironie beschreibt er die unüberwindliche Kluft zwischen der indischen Gesellschaft und Mentalität auf der einen und der Kolonialverwaltung auf der anderen Seite. Eine Kluft entsteht aber auch zwischen dem britischen Kolonialbeamten Ronny Heaslop und seiner Verlobten, die ihn auf dem Subkontinent besucht, um Indien und ihn besser kennenzulernen. Forster nimmt in seinem Roman nicht nur die Selbstgerechtigkeit und Arroganz der Briten aufs Korn, sondern auch die unumstößlichen patriarchalen Strukturen. Beide gehören untrennbar zusammen. Bezeichnender Weise gelingt es nur Forsters Alter ego Fielding eine Brücke zu bauen zwischen den "Eingeborenen" und ihren Besatzern, er stellt den Kontakt zwischen der jungen Dame und dem Inder Dr. Aziz her und kann ihr, zusammen mit ihm, etwas vom wahren Indien zeigen. Gerade die Verbindung zu Aziz führt aber auch in die Katastrophe, an deren Ende jede Verständigung gescheitert ist. Fielding distanziert sich in dem Roman aber nicht nur von der Kolonialverwaltung, er steht auch außerhalb der festgefahrenen Geschlechterverhältnisse, eine deutliche Stufe unter der Männer-Herrschaft. Er gilt als "schwach", "unmännlich und verschroben". Er ist homosexuell wie Forster selbst, in bedingter Weise fremd im eigenen Land, fremd wie auch Joseph Conrad es war. Hier die noch heute virulente "verkommene Neugier" aus der Position des Stärkeren, auf die Ludwig Fels in seinem "Soliman-Stück" angespielt hat und die heute, etwas zivilisierter, die Kanaken trifft. Dort, was sich bei Joseph Conrad zaghaft angedeutet und was in Forsters "Auf der Suche nach Indien" deutlich präsent ist: Die Idee eines anderen, gleichbetrechtigten Umgangs miteinander, der nur einen Maßstab kennt: die Achtung vor dem Leben unabhängig von Hautfarbe und Geschlecht, Religion oder Herkunft. Uwe Timm schreibt in seinem Essay "Das Nahe, das Ferne. Schreiben über fremde Welten":

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Allein die Neugier auf das Fremde reicht nicht aus. Die Gier, Neues zu sehen und zu hören, garantiert noch keineswegs eine Sichtweise, die Verstehen ermöglicht. Das setzt etwas anderes, Grundsätzlicheres voraus: das Staunen. Ein Staunen darüber, wie die Menschen, wie die Dinge beschaffen sind, das heißt, anders sein können, als man selbst ist. Die Wahrnehmung dieser Differenz erst läßt die Reflexion der eigenen Wahrnehmung zu und damit die Möglichkeit der eigenen, emanzipatorischen Veränderung im Verstehen. Ein Verstehen, das sich bemüht, die eigene Wahrnehmung als vorläufig und geschichtlich bedingt anzunehmen, also auch sich selbst als fremd und abhängig zu erfahren, um so den anderen, Fremden in seiner Würde wahrzunehmen.

Autor:
Neben den Imperativ der Integration treten heute, zumindest in den Großstädten, Kräfte auf den Plan, die im Kampf gegen die Zuschreibungen für eine wirkliche "Regenbogengesellschaft" streiten. Ihnen geht es um Gleichberechtigung, nicht um Gleichheit. Verschiedene Lebensstile und Möglichkeiten, Ethnien, Moden oder sexuelle Orientierungen sollen sich einrichten und entfalten können, Fremde unter Fremden miteinander und nebeneinander her leben und sich in Ruhe lassen. Dort, wo ihre Lebenswelten sich berühren oder überschneiden, beeinflussen und verändern sie sich, entsteht in einem gemeinsamen Prozess etwas Neues. Jenseits der Lebenslüge einer einheitlichen Kultur mit folkloristischen Einlagen werden Ambivalenz und disparate Verhältnisse zur Chance. Der Germanist Paul Michael Lützeler, der in den Vereinigten Staaten lebt und lehrt, hält den postkolonialen und multikulturellen Diskurs in dieser Ausprägung für lebensnotwendig. Er glaubt an seine Zukunft, ist in Bezug auf deutsche Realitäten aber durchaus skeptisch:

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Man ist hier nur selten bereit, sich selbst als Segment einer kulturell fragmentierten Sozietät zu begreifen, einen Dialog über die neuen Gegebenheiten in Gang zu bringen, von den Forderungen nach Akkulturalität bzw. Assimilation der Minorität an die Majorität abzurücken, sich in Toleranz gegenüber dem kulturell Anderen, Fremden, zu üben. Multikulturelles Denken und Handeln ist in Deutschland bzw. Europa unterentwickelt. Zwar gibt es in zahlreichen Metropolen Westeuropas Massendemonstrationen gegen Fremdenhass, aber was nur in bescheidenen Ansätzen existiert, ist die positive Entsprechung zu einer solchen Negation, nämlich ein Multikultur-Diskurs, der immer größere Kreise der Bevölkerung einbezieht.

Autor:
Wie hat sich der Blick westlicher Autoren auf die Dritte Welt verändert? Wie steht es um die Überwindung der "imperialen Wasserscheide", des zerstörerischen Erbes des Kolonialismus? Antworten findet Lützeler vor allem in der Literatur der Generation, die sich gegen den Vietnamkrieg und Apartheid, gegen die Kolonialkriege in Angola und Mozambique, für Demokratie in Griechenland, in Portugal oder Lateinamerika engagiert hat, bei Autoren wie Hans Christoph Buch, Martin Walser, Peter Schneider und anderen. Die Autoren treten in ihren Texten dem Fremden auf gleicher Augenhöhe gegenüber. Sie stellen ihre Position als Vertreter der Ersten Welt in Frage. Und doch schleichen sich Bilder und Erzählhaltungen ein, in denen sie nach wie vor von oben herab auf die "unterentwickelten" Völker blicken, sich die fremde Realität buchstäblich aneignen. Hans Christoph Buch, der sich selbst als "weißen Neger" bezeichnet und als Mittler zwischen den Welten wirkt, findet das Leben Haitis, das er "von innen heraus" schildert, immer wieder zu seinen Füßen. Hans-Jürgen Heise und Annemarie Zornack stellen in ihrem Text über Mexiko fest, der "Indio liebt das Besäufnis wie keine zweite Menschenrasse auf der Welt". Andere Autoren laufen Gefahr, in Abkehr von ihrer zivilisierten, kapitalistischen Heimat das Fremde zu idealisieren, dort ursprüngliche, weniger entfremdete Lebensformen zu sehen und diese als Projektionsfläche für ihre Utopien zu benutzen. Wieder andere nutzen den Blick über den Zaun, in die fremde Welt, um die eigene Perspektive, die eigene Position zu überprüfen. In seiner "Rede des toten Kolumbus am Tag des Jüngsten Gerichts" läßt der schon erwähnte Hans-Christoph Buch den Eroberer als Erzähler auftreten, der, immer wieder reinkarniert, immer wieder von Neuem in Haiti landet: als Besucher des Landes, der 1987 in die bürgerkriegsähnlichen Situation um freie Wahlen gerät; als europäischer Handlungsreisender im letzten Jahrhundert, den eine Tropenkrankheit dahinrafft; als Eroberer und Kolonist, der Schiffbruch erleidet und einen großen Teil seiner Flotte verliert. Wo Buch andeutet, dass die Besucher die Bedingungen ihres eigenen Scheiterns selbst schaffen, reflektiert Uwe Timm in dem schon 1974 erschienenen Roman "Der Schlangenbaum" auch Einsichten und Konsequenzen daraus: Wagner, ein deutscher Ingenieur, geht für seine Firma nach Argentinien, um dort den vom Scheitern bedrohten Bau einer Papierfabrik zu retten: Der Beton ist schlecht, der Baugrund ist sumpfig, alles zerbröselt und versinkt langsam. Mit Macht kämpft Wagner gegen Korruption und Sabotage – vor allem seitens der Indios, in deren Gebiet die Baustelle liegt:

Zitator
Man kann den Dingen nicht eine ihnen fremde Logik aufzwingen, und erst recht nicht den Menschen. Sonst vergewaltigt man sie. Sie sind dann zerbrochen, auch die Menschen.

Autor:
So erklärt ein Untergebener dem neuen Chef seine Entscheidung das Land zu verlassen:

Zitator
Ich bin dafür, dass die Fabrik im Schlamm versinkt, je schneller, desto besser. Und Sie sind der Mann, der hier alles wieder ins Lot bringen will. Und ich glaube auch, dass Sie das schaffen werden.

Autor:
Die Ironie der Geschichte: Das Verhältnis zwischen dem Macher Wagner und den Einheimischen, die ihm gehorchen müssen, das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt, wird hinter seinem Rücken auf den Kopf gestellt. Wagners Dolmetscher, ein Indio namens Juan, hat in Berlin Ethnologie studiert. Völlig perplex erfährt Wagner gegen Schluss des Romans:

Zitator
Er studiert uns. Er betreibt Feldforschung. Er beobachtet Sie.

Autor:
Wo aber finden sich die Romane deutscher Autoren, in denen hier lebende, eingewanderte oder aufgewachsene deutsche Bürger fremder Abstammung eine Rolle spielen - jenseits vom Krimis mit seinen klischierten Freund-Feind- oder Täter-Opfer-Bildern? Die österreichische Autorin Barabara Frischmuth erzählt in ihrem Roman "Die Schrift des Freundes" von einer jungen Wienerin, die sich in Hikmet, einen illegal eingewanderten Türken verliebt und ihre eigene Welt nicht mehr versteht. In der deutschen Literatur steht Sten Nadolnys Geschichte "Selim oder die Gabe der Rede" ziemlich allein in der Landschaft. Mühselig hat Alexander, der Erzähler, seinen Weg zum anerkannten Rhetoriklehrer gemeistert. Auch Dank Selims, eines türkischen Gastarbeiters der ersten Stunde, mit dem sein Lebensweg auf merkwürdige Weise verwoben ist. Selim eignet sich die Realität des für ihn fremden Landes mit ethnologischem Blick an. Die Genauigkeit seiner Beobachtung ließ ihn erkennen, was Alexander verschlossen geblieben war: Dass auch Alexander ein Fremder ist, ein Linkshänder, dass er nicht mit sich im Reinen ist, sich mit seiner Rechten quält, ohne die Ursache zu ahnen. Selim öffnet ihm die Augen. Darin, dass Alexander sich selbst jetzt als anders erlebt, als geschichtlich bedingt, abhängig und veränderbar, wie Uwe Timm es formuliert hat, liegt seine Chance: ein souveräner und freier Mensch zu werden.

Zitator
Ringsum sah er eine Gesellschaft von Rechtshändern. Die Linke wurde absichtsvoll diffamiert, ihr Gebrauch schon den Kindern ausgetrieben. "Links" war schlecht, "rechts" war gut. Dagegen mußte etwas getan werden, angefangen bei der eigenen Person. Alexander stand auf und ging im Zimmer hin und her. Laut sagte er: "Die Linke rehabilitieren" (...). Er wollte zunächst sich selbst ändern, dann die Gesellschaft. Wenn sich eine gute Gelegenheit bot, auch umgekehrt!


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